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Aufbruch nach unterwegs
von Ursula Badrutt Schoch


Kunstmuseum: Schweizer Erstaufführung des Projekts «Ma Bohème»

warth. Lisa Schiess hat gemeinsam mit sechs Komponisten ein Sonette von Arthur Rimbaud zum klingenden Gesamtkunstwerk umgesetzt. «Ma Bohème» nimmt jene mit auf eine Reise, die den Weg dem Ziel vorziehen.


Die Reise beginnt vor Ort. Unterwegssein ist auch stationär - mit Reden, Lesen, Denken - möglich. So zeigen es die Bilder der ersten Sequenz in der Doppelprojektion der Videoarbeit «Sous la Grande-Ourse» von Lisa Schiess, die den Auftakt zum audio-visuellen Konzert macht. Das Leben im Restaurant in Zürich und in einem Teehaus in Kairo sind aneinander gelehnt. In den Unterschieden finden sich Gemeinsamkeiten. Den Graffiti hier entsprechen die üppigen Wandmalereien dort. Die Geräuschkulissen legen sich übereinander.


Flanierlust


Dann werden die Bilder rot wie ein Lichtsignal und die Musiker setzen an. Mit Paukenschlag (Schlagzeug Christoph Brunner), Tubadrönen (Marc Unternährer) und zarten Tropfen. Der ägyptische Komponist Ali Asman hat sich assoziativ auf die bildhaften Worte des 16-jährigen Rimbaud eingelassen und wundersam wärmende Klanggebilde gebaut. Die Baritonstimme (Robert Braunschweig) füllt das Gewölbe der Kartause mit sehnsuchtsvoller Aufbruchstimmung. Gitarrenspiel (Marino Pliakas) bringt melodiöse Leichtigkeit, Handtrommeln zügige Entschlossenheit in die Flanierlust. So kann denn die Reise in der zweiten Filmsequenz losgehen, im Auto durch städtisches Gewirr - durch Zürich und durch Kairo. «Unwritten Prophecy» nennt Komponistin Nahla Mattar ihr Sonette, das zarte Wind- und Vibraphonhauche mit exzessiven Wirbeln und der eindringlichen Singstimme mischt und eine zwischen Leichtfüssigkeit und Schwere schwebende Spannung erzeugt.


Stocken und Stossen


Die Bilder fahren weiter durch die beiden Städte, an der grossen Moschee vorbei, ein jonglierender Tod verlangt vor dem Bellevue Aufmerksamkeit. Alfred Zimmerlin aus Zürich hat den dritten Kompositionspart übernommen, fährt mit Rock-Pop-Zitaten ein, überlagert West und Ost, nimmt den Rhythmus zurück, um ihn umso gewaltiger wieder auftauchen zu lassen - ein ständiges Stocken und Stossen. Die beiden anschliessenden Filmsequenzen führen weiter durch Zürich und Kairo, Sirenen und Hupen musizieren ineinander. Christoph Gallio aus Zürich, der schon mit Irene Schweizer, Norbert Möslang oder Beat Streuli zusammengearbeitet hat, vertont das Sonette in einer langen Schlaufe. Die nächsten Bilder führen in die Vorortagglomerationen, über Schnellstrassen in ländlichere Gebiete, Kurvenfahrten folgen, die Pyramiden, der Säntis rücken ins Blickfeld. Ein Pingpongspiel von Worten, Buchstaben, Tönen hat Annette Schmucki aufbereitet: das als lebhafter Sprechgesang um Rimbauds «Ma Bohème» tänzelt. Mit der siebten Videosequenz kommt die Autofahrt in die Zielgerade - überraschend beiläufig. Die Gipfel bleiben letztendlich unberührt, der Parkplatz wird Tummelwiese für neue Sehnsüchte, Träume, Aufbrüche.


Brückenbau


Analog den sechs Würfelseiten verflechten sich sechs zeitgenössische Musikstücke zum Gedicht «Ma Bohème» von 1870 mit magischen sieben Bildsequenzen. Die Montage von Film- und Musikteil wirkt teilweise irritierend unverbunden. Andererseits sind auch die Pausen - wie das Warten vor dem Rotlicht - das Aushalten von Leer-Zeit, wesentlicher Teil von «Ma Bohème». Hier werden nicht nur unterschiedliche Kulturen über zwei gewöhnliche Autofahrten räumlich und inhaltlich einander angenähert, ohne ihre Eigenheiten abzuschleifen, sondern auch noch immer existierende Spartengrenzen überwunden. Musiker und Komponisten verschiedener Generationen aus den Bereichen der experimentellen, neuen und Improvisationsmusik verbinden sich mit konzeptioneller zeitgenössischer Kunst zum Brücken bauenden Mehrfacherlebnis.



Textauszug aus "St. Galler Tagblatt" vom Mittwoch, 21. Januar 2004.