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Geteilte Bilder

Anmerkungen zu Arbeiten von Lisa Schiess



Die von der Kunstkritik immer wieder proklamierte und aktualisierte Krise der Malerei droht allmählich zum Gemeinplatz und zum von der Theorie mit gewobenen Schleier der Kreativitätskrise des Individuums zu verkommen, das mit dem Modedruck des Leidens am Bild allzu schnell die Flucht aus der unbewältigten Wirklichkeit antritt. Das Scheitern an dem der Gegenwart adäquaten Ausdruck im Medium Malerei verbirgt oft bloss das Scheitern an der Freiheit, die sich mit dem Schwinden verbindlicher Anhaltspunkte in Gestalt klar voneinander sich abgrenzender Darstellungsformen eröffnet. Dennoch kann und soll die Komplexität der Situation nicht negiert werden, der heute mit dem Medium Malerei schaffende Künstler und Künstlerinnen gegenüberstehen: Das innerhalb eines «Rahmens» sich ausdehnende, zu bearbeitende «Material» als Produktions- und Reflexionsfläche der Realität bleibt ein vielschichtiger, aus kontroversen Sichten gestalteter und von verschiedenen Interessen vereinnahmter Stoff, dessen reich befrachtete, aber auch belastete Prämissen miteinbezogen werden müssen, um zu überzeugenden Aussagen gelangen zu können.

Ohne radikalen Gestus, vielmehr mit heiter-ketzerischem Argwohn, der ihre künstlerische Praxis in besonderem Masse prägt, und dem eindeutige Orientierungen, verbindliche Strukturen oder vorgegebene Bildlichkeiten zugunsten der schöpferischen Freiheit zum Opfer fallen, setzt Lisa Schiess ihr malerisches Experiment am Keilrahmen an. Als wichtiges Bezugssystem und Erinnerung an die traditionelle Form des Tafelbildes markiert er den Ausgangspunkt der «Wandlung» des Bildes und demonstriert die Tragfähigkeit einer künstlerischen Lösung, die sich als komplexes und offenes Gefüge präsentiert.
An der scheinbar starren Begrenzung werden Möglichkeiten der Befragung des Gegenstandes Malerei ohne dessen zwangsläufige Auflösung vorgeführt. Die «Krise» wird produktiv umgedeutet in der Auslotung der Mittel, sowohl innerhalb des Mediums, als auch über dessen Gattungsgrenzen hinaus. Das Schaffen wird dabei klar von einem konzeptionellen Interesse geleitet, das mit Humor Produktions- und Rezeptionsvorgänge gleichermassen kritisch anvisiert. Im Wissen um ihre Differenziertheit wird die Wirklichkeit nur noch als reflektierte, vielfach gebrochene und vor allem in den Problemen der Form, nicht aber unmittelbar in ihren Oberflächenaspekten in das Bild aufgenommen.
In diesen Voraussetzungen liegt der Ursprung der Formensprache von Lisa Schiess, als deren Kennzeichen insbesondere die Reduktion der bildnerischen Mittel, Mehrteiligkeit, Variabilität und die stete Fluktuation zwischen Auflösung und Konstitution wie auch zwischen zweiter und dritter Dimension hervortreten. Das Potential des Bildes, vieldeutig zu sein, wird auf mehreren Ebenen bewusst eingesetzt. Eine Arbeit kann oft sowohl als Bild, Plastik oder Installation aufgebaut werden, ohne dabei ihre formale und inhaltliche Polyvalenz und Offenheit zu verlieren. Das Bild und seine plastische Form befinden sich, ohne je in Eindeutigkeit zu verfallen, im Zustand ständiger Bewegung und Wandlung.

Das in sich geteilte Bild ist in seiner Form des latenten Zerfalls Ausdruck des mehrfach gebrochenen Verhältnisses zur traditionellen Form des Tafelbildes. Zerfall jedoch impliziert Verwandlung und Gelegenheit zur Neukonstitution, deren Merkmale wiederum die Absage an Totalität, Abgeschlossenheit oder vermeintliche Einheit formulieren. Als vollendet könnte eine mehrteilige Arbeit allenfalls in der imaginären Gleichzeitigkeit aller ihrer Varianten gelten.
Die Fragmentierung einerseits und mit der Variabilität die Integration verschiedener Standpunkte andererseits beinhalten sowohl einen ironischen Kommentar zum malerischen Erbe als auch den Hinweis auf die Unmöglichkeit einer ungebrochenen Bezugnahme auf abstrakt-malerische Formulierungen der Moderne. Wenn etwa in der Arbeit Can Can aufgrund des Titels, der auf die drei Primärfarben Rot, Gelb, Blau und die Nichtfarben Schwarz und Weiss beschränkten Koloristik und wegen der konstruktivistischen, rhythmisierten Formrudimente sich Assoziationen etwa zu Piet Mondrians Broadway Boogie-Woogie (1942/43) einstellen, werden sie formal durch an Tendenzen des Informel mahnende Fragmente unterlaufen.

Aber auch in den anderen Arbeiten vermischen sich verschiedene, ihrer abbildenden Funktion entkleidete Linien-, Formen- und Farbensprachen. Das streng rechtwinklige, durch das Aneinanderreihen der Keilrahmen oder Kuben entstandene Raster wird jeweils von einem organisch verlaufenden Liniennetz überlagert, das zusammen mit den die Begrenzung der Rahmen ebenfalls übergreifenden Farbfeldern die aufgelockerte, variable Struktur zusammenhält. Im Gegenteil zeigen die dominant erscheinenden, organischen Formen die Neigung – insbesondere im plastischen Werk – sich in geordneten Mustern aus gleichen, erweiterten Gliedern, ähnlich changierenden Ornamenten, zu organisieren. Durch das gleichmässige Überziehen der zusammengesetzten Bildfläche mit einer Vielzahl optischer Brennpunkte erweist sich die Struktur auch in dieser Hinsicht als nicht an die Ränder gebunden.
Thematisiert wird zum einen die Begrenzung des Bildfeldes als Spiel zwischen ironischer Affirmation und Negation. Zum anderen kommt im Wechselspiel der gegenläufigen Formen die Opposition einer geometrischen, künstlichen Ordnung zum Chaos der wuchernden Natur und der Emotionalität zur Sprache. Die analytische Kälte der festen, konstruktiv-klaren Form scheint dabei eine Metamorphose zum organischen Fragment einzugehen, das aber stets die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Ordnung und Unordnung wie nach seinem Ort mit sich führt.

In dieser Hinsicht bemerkenswert ist das in seine acht Teile zerlegte und als Ein Teil vom Ganzen präsentierte Werk. Mittels des nach Aussen strebenden Liniengefüges und der über die Flächen tretenden Farbfelder expandiert das einzelne Teil nicht nur in die Fläche der Wand und erlangt in der ihm inhärenten Evokation seiner Ganzheit Monumentalität. Angesichts der Möglichkeit, als Teil eines Ganzen unter mehrere Besitzer aufgeteilt zu werden, strebt es auf einer übertragenen Ebene vom privaten in den kollektiven Raum. In der Teilung des Bildes ist damit das Teilen als Handlung wie auch Teilnehmen des Betrachters am Bild und seinen Implikationen mitgedacht.

Dem Betrachter und seinem Verhalten hat die Künstlerin stets eine wichtige Rolle zuerkannt. Das Werk wird als derjenige Ort verstanden, in dem sich die Kompetenz des Künstlers und die Kompetenz des Betrachters begegnen.
Bei den als Türme benannten Arbeiten kann der Betrachter aufeinander geschichtete, mit bemalter Baumwolle bespannte Keilrahmen auf mehrere, nicht aber beliebige Arten selbst «auslegen» oder die verschiebbare Binnenstruktur in Arbeiten wie Can Can auf eigene Weise gestalten. Das Aufheben des sonst strikten Verbotes des Anfassens verringert nicht nur die Distanz zum Betrachter und vermag sie bisweilen sogar aufzuheben, falls die Aufforderung zur Hand-Habung anstelle des Um-Gangs ernst genommen wird. Die Offenlegung der Mittel und der Einbezug anderer in den schöpferischen Prozess wirft in Anlehnung an das Verfahren Andy Warhols die Frage nach der Einmaligkeit der künstlerischen Handschrift auf.
Gerade in dieser Hinsicht betreibt die Künstlerin kein Spiel des souveränen Überblicks, wenn auch das Moment des Spielerischen ein wichtiges Prinzip ihrer Arbeit ist. Mit ironischem Impetus nutzt sie vielmehr die Möglichkeit des Spielerischen, die künstlerische Gebärde vom Pathos zu befreien. Zugleich verweist sie auf die auch ihre Arbeit betreffenden Konventionen des künstlerischen Verhaltens und der Rezeption mit dem Ziel, deren trivialisierte Strukturen zu zersetzen. Die Betonung des individuellen Handelns gilt einer veränderten Begegnung mit Kunst, die sich nicht im Raum der Indifferenz oder des vorschnellen Konsenses abspielt, sondern zur unmittelbaren Wahrnehmung und ästhetischen Erfahrung wird.

Obwohl nicht grundsätzlich negativ besetzt, ist der Begriff des Spielerischen in Verbindung mit Arbeit, insbesondere auch im Bereich der Künste, durch seine Nähe zum Spiel und zur Spielerei, denen Belanglosigkeit anhaftet, belastet. Dabei werden die Analogien des Spiels zum kreativen Prozess übersehen. Gerade weil dieser aller Kalkulation und Programmierung entgleitet, ist er dem von Zweckmässigkeiterwägungen geleiteten Menschen fern. «Der Prozess selbst, weniger sein Ausgang oder Resultat, ist dem handelnden Subjekt bedeutsam. Mit diesem ganz zentralen Merkmal ähnelt der kreative Prozess jenem eigentümlicherweise zweckfreien Problemlösungsprozess, dem Spiel. »1
Lisa Schiess ist sich der Nähe von Spiel und Kreativität bewusst. Mit dem Einbezug des Betrachters in den Gestaltungsprozess unternimmt sie den Versuch, diesen Aspekt auch in den Rezeptionsprozess einzubringen. Dem homo sapiens wird dessen unterdrückte Fähigkeit als homo ludens abverlangt, und der homo oeconomicus muss sich mit Einem Teil vom Ganzen anfreunden. In diesem Sinn kommt dem Spiel eine Dimension symbolischer Aktion zu, weshalb die Arbeiten der Künstlerin keinesfalls als formalistische Spielereien abqualifiziert werden können. Das Konzept demonstriert, wie das künstlerische Vorgehen den jeweiligen Umgang mit ihm vorgibt und wie umgekehrt die Vereinnahmungsbestrebungen künstlerisches Schaffen und schliesslich das Werk selbst prägen – und das ist zweifellos eine inhaltliche Komponente.

Es kann natürlich nicht Aufgabe dieser Anmerkung sein, die Strukturanalogien genau zu bestimmen, doch lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Beobachteten die Arbeit von Lisa Schiess unter dem Aspekt der Theorie des «offenen Kunstwerks» Umberto Ecos betrachten, dessen Poetik auf die Struktur der Rezeptionsbeziehungen zielt. Damit gerät die Trias «Produktion – Werk – Rezeption» als Ganzes in den Blick. Das «offene Kunstwerk» macht die Offenheit der untersten der drei Ebenen zum Programm: «Die Poetik des ,offenen Kunstwerks’ strebt (...) danach, im Interpreten ,Akte bewusster Freiheit’ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerks vorschriebe.»2
Lisa Schiess' Verfahren trägt insbesondere auch Züge des «Kunstwerkes in Bewegung», eines Spezialfalls des «offenen Kunstwerks», das dem Interpreten innerhalb vorgegebener Regeln die Freiheit der Organisation des Materials einräumt: «Das Kunstwerk in Bewegung (...) bietet die Möglichkeit für eine Vielzahl persönlicher Eingriffe, ist aber keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung zu einem am Werk selbst orientierten Eingreifen, die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl immer noch die vom Künstler gewollte ist.»3


© Maria Smolenicka, 1993


1 Günter Rexilius/Siegfried Grubitzsch (Hrsg.), Handbuch psychologischer Grundbegriffe, Reinbek 1981. S. 575.

2 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1977, S. 31.
3 Ebd., S. 51.