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EINLADUNG ZUM DENK-MAHL

Zur Arbeit Prêt-à-peindre (A votre service II) von Lisa Schiess



«Wahrnehmen ist dasselbe wie Aufnehmen, und es ist dasselbe wie Erwidern.»1

Die überraschende Vielgestaltigkeit des Werks von Lisa Schiess ist Konsequenz einer künstlerischen Praxis, für die sich kaum ein anderes Bild als Metapher besser eignet als dasjenige der «Laufmasche im System», welches die Künstlerin in ihrer 1990 entstandenen Arbeit Odradek anwandte: Das Werk folgt den Prämissen der Forderung nach ungehindert schöpferischer Freiheit und dem Versuch, die künstlerische Tätigkeit der Fixierung, Verfügbarkeit und begrifflichen Festlegung zu entziehen. Dass diese Haltung nicht zwangsläufig eine additive Realisierung disparater, an der Oberfläche treibender Teile produziert, beweist das Werk selbst. Der Keilrahmen als wichtiges Bezugssystem und Erinnerung an das traditionelle Tafelbild setzt den Ausgangspunkt der «Wandlung» des Bildes und demonstriert die Tragfähigkeit einer künstlerischen Lösung, die sich als komplexes und offenes Gefüge präsentiert.

Spielerisch und ketzerisch ist der Weg der Künstlerin durch das Dickicht des Stilpluralismus’ der Gegenwart, durch all die Gesten, Posen und Materialien zu ihrem eigenen, präzisen Ausdruck. Trotz der zentralen Stellung kann die Beschäftigung mit dem Keilrahmen daher auch nicht Ausschliesslichkeitscharakter annehmen. An der scheinbar starren Begrenzung bewährt sich aber immer wieder lachend die schöpferische Freiheit. Das Schwinden verbindlicher Anhaltspunkte in Gestalt voneinander sich abgrenzender Darstellungsformen birgt für Lisa Schiess nicht nur Möglichkeiten der Veränderung des bildnerischen Werks über die ihm zugewiesenen Grenzen hinaus, sondern erlaubt kritische Reflexion des Verhältnisses zwischen Bild und Wirklichkeit, Produktion und Rezeption.

Die 13 Keilrahmen der Installation Prêt-à-peindre (A votre service II) sind mit Stoffservietten aus dem Mailänder Restaurant Bagutta bespannt. In der Struktur lehnt sich die in sie eingewobene Darstellung an Leonardos Letztes Abendmahl an, das 1498 als Fresco im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand vollendet worden ist.
Mit dem Einbezug des «objet cherché» Serviette ins «Bild» greift die Künstlerin wie zuvor in anderen Arbeiten nach einem textilen Objekt aus dem für sie wichtigen Kontext «Essen». Im völligen Verzicht auf Farbauftrag auf das Gewebe kommt die sich bereits früher abzeichnende Tendenz zur bildnerischen Reduktion zum Tragen, mit der eine Erweiterung der thematischen Fülle einhergeht. Ähnlich einem Ready-made wird die Serviette auf den Rahmen montiert und ihrer eigentlichen Funktion beraubt. Die Anspielung gilt traditionellen Formen künstlerischen Verhaltens und der Malerei, die über den «blossen Augenreiz»2, zu der Duchamp sie verkommen sah, hinausgeht und vom «reinen Sehbild zum visuellen Gedankenbild»3 strebt. Der Verweis auf die Welt des Alltags durch die Wandlung des Gewebes zum Reflexions-Stoff bezweckt die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Alltagsrealität, insbesondere auf einen «Produktionsvorgang und ein Konsumverhalten, die mit anonymem Leben durchsetzt sind»4. Dies betrifft selbstreflexiv auch die Assoziationsräume von Lisa Schiess’ Werk.

Die Installation erschliesst sich im Raum. Distanz und Nähe legen andere Schichten frei. Dem Überblick folgt die Fokussierung. Die Kleinheit und Undeutlichkeit der Darstellung zwingt den Betrachter zu konzentriertem Schauen: Das Auge sucht im implizierten Formeindruck das Letzte Abendmahl und findet nur eine Simulation: Es sind der Herren nur elf und sie tragen Anzüge und Krawatten. Das Servietten-Bild entpuppt sich als Abbild des Abbildes des berühmten Vor-Bildes.5
Nicht nur das Unternehmen Kultur bedient sich immer besserer Technologien der Reproduktion. Mit der Demokratisierung der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit6 ist ihre Vereinnahmung durch den Markt vorangeschritten. Die Allgegenwart des «grossen» Gemäldes präsentiert sich auf Bettwäsche, Krawatte oder Serviette als Ikone der Warenwelt. Auf der anderen Seite lauert das Bemühen, dem Kunstwerk seine mystisch-religiöse Aura wieder zu verleihen, den Kunstraum in einen Kultraum zu verwandeln.7 Und im elitären Zufluchtsort Museum verdaut indessen die Postmoderne in Zitatenhäppchen ihre Tradition.

Lisa Schiess’ Arbeit durchmisst den Raum zwischen der Banalisierung und der Kultisierung, in die die Kunst geraten ist. Analog zu den von Fragmenten des Wissens und von Indifferenz bestimmten Mustern der Wahrnehmung steht das Gerinnen von Form und Inhalt zur verdinglichten Banalität des industriell normierten Stoff-Musters. Der Schriftzug Bagutta wird Signatur eines anonymen Massenproduzenten und Titel des entfremdeten Bildfragments. Die geistreiche Serviette wischt die Spuren des wahren œuvres ab, das als «Verschmelzung der Bildhauerkunst mit der Malerei»8 den Teller ziert. Es sind die Restaurateure, die den multimedialen Akt inszenieren, und die «Esskunstgesellschaft versucht, das Gericht, das ein Gedicht ist, in seiner sibyllinischen Wesenheit zu enträtseln, indem sie es ein Menu lang wie ein Tellerexponat interpretiert»9. Nahrung und Kunst werden gleichermassen pervertiert. Die gleichzeitige, bewusste Evokation der Überreste sakraler Feierlichkeit von Leonardos Fresko – über Form und Rhythmus in einer Installation von aussergewöhnlich ruhiger Geschlossenheit – soll nicht über die List dieser Feierlichkeit hinwegtäuschen. In den heiligen Hallen der Kunst ist derjenige Jünger, der den Geldbeutel umklammert, immerhin auch mit von der Partie.

Prêt-à-peindre (A votre service II) ist als Weiterführung der 1990 entstandenen, neunteiligen Arbeit A votre service entstanden. In ihrem ironischen Impetus wehren beide Installationen Vereinnahmungsversuche ab. Die Malerei hat weder «zu Diensten» zu sein, noch ist sie «prêt-à-servir», angerichtet, um genossen zu werden, oder bereit, sich den Vorgaben des Kunstmarkts zu beugen. Sie verweigert die ihr zugewiesenen Funktionen als «ästhetischer Kontemplationswert» oder «spekulativer Aktienwert»10.
Die Arbeit von Lisa Schiess erschöpft sich aber weder in der Analyse und Reflexion vorgegebener Bildlichkeit noch im ironischen Kommentar der Vereinnahmungsgeschichte des künstlerischen Werkes. Die mehrfach verwischte Spur des Bildes unter den Spuren des Mahls führt zum Bild im Bild, zu seiner Bedeutung und «seinem» Ereignis. In der räumlichen Ausdehnung und Platzierung der Installation sowie der Bereitstellung der 13 «Gedecke» wird die Tafel des Letzten Abendmahls «rekonstruiert». Jenseits der theologischen Formulierung gilt der Hinweis der Verwandlung von Substanzen: Die ästhetische Betrachtung vermag im Sinne Duchamps dem sinnentleerten Gegenstand seine Magie zurückzuerstatten.
Andererseits stiftet, so lautet die Formel, die in vielen Variationen erscheint, das Abendmahl Gemeinschaft11. Das Handlungsmuster erscheint auch in anderen Formen des ritualisierten, gemeinsamen Essens, Trinkens und Feierns. Was das Mahl jedoch erst zum kommunikativen Akt werden lässt, ist die Rede. Darin zeigt die Installation Verwandtschaft mit einer anderen Arbeit von Lisa Schiess, Symposion (1989), die von einem auf der zeremoniellen Dramaturgie von Platons Symposion (um 380 v. Chr.) unter Freunden geführten, von einem Mahl und «Trinkgelage» begleiteten Dialog ausgeht. Die Gemeinschaft beim Gastmahl erhält im Symposion eine philosophische Dimension: «Nicht nur Hunger und Durst werden gestillt, sondern auch der Hunger und der Durst nach Erkenntnis, nach der Wahrheit und nach dem Schönen. In der Metapher offenbart sich die Wesensverwandtschaft von Essen und Erkennen»12.

Prêt-à-peindre (A votre service II) kann als Einladung zum Dialog zwischen Kunst und Betrachter, zur Erkenntnis der Bilder, zur sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmung des Ergebnisses künstlerischer Arbeit verstanden werden. Der Prozess ist symbolisch in der Überwindung der Distanz durch das Heranschreiten aufgehoben. Die Variabilität, Mehrteiligkeit oder Serialität von Lisa Schiess’ Arbeiten ist jeweils Ausdruck der Gebrochenheit des Verhältnisses zur traditionellen Form der Malerei, aber auch Zeichen der Unabgeschlossenheit und Offenheit des Werkes, das jeder Betrachter immer von neuem konstituiert.
Die Betonung der Mitte der Installation ist zwar in Anlehnung an das Fresko ein Hinweis auf die Zentralperspektive und damit auch Formulierung eines individuellen – nicht aber des einzig richtigen – Standpunktes. Sie ist insofern eine symbolische Setzung, als es Leonardo mit der Konstruktion dieser Mitte gelang, den Raum des Kunstwerks und den realen Raum zu verbinden und so die Mönche täglich am Letzten Abendmahl teilnehmen zu lassen.



© Maria Smolenicka, 1993


1 Dieter Schwarz (Hrsg.), «Agnes Martin, ,Schriften’», in: Ausst.kat. Agnes Martin: Bilder und Arbeiten auf Papier, 1960-1989, Kunstmuseum Winterthur, 1992, S. 91.

2 Herbert Molderings, Marcel Duchamp, Frankfurt a. M. 1983, S. 31.

3 Ebd., S. 31.

4 Franz Meyer, «Transform-Stationen», in: Ausst.kat. Transform – BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum und Kunsthalle Basel, 1992, S. 10.

5 Das Stoffmuster bezieht sich auf ein 1926 entstandenes Bild des italienischen Künstlers Mario Vellani Marchi, das heute noch im Restaurant Bagutta ausgestellt ist. Entstanden ist es aus Anlass der Gründung eines Preises für journalistische Leistungen. Dargestellt sind die elf Stiftungsmitglieder. Der Premio Bagutta wurde erstmals 1927 verliehen. (Für die Recherchen danke ich Frau Gabi Faeh, Mailand.) Auf der Folie des Abendmahls haben Künstler öfters ihre Gruppen konstituiert oder aufgelöst. Zwei Beispiele: Im Mailänder Restaurant Biffi fand 1970 die Auflösung der Gruppe des Nouveau Réalisme statt. Daniel Spörri hielt auf dem Plakat Letztes Abendmahl. Totenmahl des Nouveau Réalisme die Menufolge fest. Im Berner Szenenlokal Falken hängt die Fotomontage Nachmittags-Sitzung nach ,Ultima cena’ von Leonardo da Vinci (1983) von Herbert Distel: Berner Künstler und Freunde gruppieren sich um den Eisenplastiker Jimmy Schneider.

6 Vgl. Walter Benjamin, «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», in: Walter Benjamin, Illuminationen – Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1977, S. 136ff.

7 Vgl. Karl Markus Michel, «Heiliger Lukas! Kritik der Kunstkritik», in: Kursbuch 99/1990, Berlin, S. 129ff.

8 Jean-Anthelme Brillat-Savarin, Physiologie du goût ou méditations de gastronomie transcendante, Paris 1926, S. 291. Zit. nach: Hartmut Kiltz, Das erotische Mahl, Bonn 1982, S. 19.

9 Isolde Schaad, «Zürcher Abgeschmacktes», in: Kursbuch 79/1985, Berlin, S. 73.

10 Stephan Berg, «Krise – Welche Krise? Überlegungen zur schwierigen Situation der zeitgenössischen Malerei», in: Kunstbulletin 1,2, Zürich 1993, S. 8.

11 Vgl. etwa Herbert Heckmann, «Zur Kulturgeschichte des Essens – Der gemeinschaftsbildende Aspekt», in: Manfred Josuttis/Gerhard Marcel Martin (Hrsg.), Das heilige Essen – Kulturwissenschaftliche Beiträge zum Verständnis des Abendmahls, Stuttgart/Berlin 1980, S. 59ff.

12 Ebd., S. 63.