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Das Bild als Spielgrund
von Brita Polzer


Ausgehend vom herkömmlichen Tafelbild hat Lisa Schiess eine partizipatorische Ästhetik entwickelt, die die spielerische Mitwirkung der nicht mehr nur Betrachtenden impliziert.

Bevor Jasper Johns, Robert Rauschenberg und dann Andy Warhol in den 50er und 60er Jahren die Bildfläche als Spielgrund darstellen konnten, den nicht nur sie selbst, sondern rudimentär auch ein Publikum bespielen konnte, hatte mit dem Abstrakten Expressionismus eine Entwicklung stattgefunden, die - wie Harold Rosenberg formulierte - die Leinwand als Arena zeigte, in der man handeln musste, die nicht mehr nur Raum war, in und auf dem etwas dargestellt, konstruiert oder untersucht wurde.

Bei Lisa Schiess führte die Abkehr vom geschlossenen Kunstwerk (und nur diese ihrer Arbeiten sollen hier berücksichtigt werden) ebenso über das Verständnis der Bildfläche als Aktionsfeld. Die Künstlerin begann anfangs der 80er Jahre, Papiere mit schnellen, an chinesische Tuschmalerei erinnernde Lineaturen zu versehen, um sich von einer als beengend empfundenen fotorealistischen Malerei zu befreien. Eine tänzerisch über das Blatt hinweggleitende Bewegung hinterliess ihre fast zufällige Spur. Den Tisch, auf dem die Blätter lagen, umkreisend, schuf Schiess Arbeiten, die - als ihre ersten "Variablen" - von vier Seiten gehängt werden können.

Ein nächster Schritt zur Aufhebung der kontemplativen Erfahrung eines Kunstwerks zugunsten einer körperlichen Partizipation auch der Rezepienten geschah mittels eines sich über mehrere Leinwände erstreckenden Linienzuges, dann mit den Varianten von Ornamenten, "vertigerten" Hasen, Schweinen oder Füchsen von 1990/91, und schliesslich mit den Türmen.

"Gelber Turm" (1990/91) besteht aus 64 kleinen Bildtafeln, die im Atelier einem Freundeskreis zum spielerischen Umgang zur Verfügung standen. Die einzelnen kleinen Bildchen können, Mosaiksternchen gleich, zu grossen Bildern kombiniert oder - und hier geschieht ein erster Übergriff in den Raum - zu Türmen gestapelt werden.

In "Les Cactus - oder das Kreuz mit dem Würfel" (1994) kommen Bodenzeichnungen hinzu, aufgeklappte Würfelfelder, die an Kinderspiele wie Himmel und Hölle erinnern. Auf einigen Feldern liegen aus Frottéestoff gefertigte, stachlig-weiche Gebilde, die während einer Ausstellung die Rückwand hochkletterten und dort von Spielsteinen zu Kunstobjekten wurden. Während Besuchende der Ausstellung die Lage der weissen, undefinierbaren Körper auf den Spielfeldern veränderten - Lisa Schiess beobachtet stets mit Vergnügen, wie ein Publikum sich ihren Arbeiten nähert -, blieben die an der Wand hängenden unangetastet. Das ausgestellte Wandprodukt ist heilig, der Boden unter unseren Füssen dagegen profaner Grund.

Aus den Resten der "Cactus" entwickelte Lisa Schiess die "Partikel-Wandobjekte". Der weiss bemalte Frottéestoff wurde mit Druckknöpfen versehen, so dass sich die Teile in sich selbst zu dreidimensionalen Objekten oder zu Ketten aneinander knüpfen lassen. Immer sind die einzelnen Elemente der Arbeit klein. Aneinandergereiht entstehen grössere Gebilde, aber grundsätzlich ist diese Kleinheit der Einzelteile wohl Voraussetzung für eine Strategie des spielerischen Umgangs, des Handhabbaren, der Handarbeit und vielleicht allgemein der Handlung. Überhaupt ist das Haptische - zumeist völlig vernachlässigt neben dem Optischen - ein bei Lisa Schiess berücksichtigter Sinn.

Aufbewahrt wird die Partikel-Versammlung flach geschichtet in einem Koffer. Hat dieser sein Reiseziel erreicht, können die lapidaren Gebilde zur "Umbaustelle" ausgelegt und dann nach Belieben zu Skulpturen gespreizt und aufgebauscht werden. Ästhetisches Tun besteht nicht mehr in einer einmaligen Leistung einer einmaligen Person, sondern im Angebot eines Sets von Bausteinen, das andere animieren soll, sich einzulassen, mitzuspielen, einer interesselosen Beschäftigung zu frönen. Spiel ist - nach Kant - wie die Kunst eine "Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist."

Die Arbeit "Das Ganze" (1992) besteht aus acht "Teilen vom Ganzen". Acht kleine Bilder sind mit schwarzen Linien und roten, blauen, gelben und weissen Flächen versehen. Zu den Rändern hin sind die Leinwände gleichmässig und kongruent dreigeteilt, ihr Innenleben aber ist von einem freien Linienspiel bestimmt. Nach aussen fügen sie sich einem geometrischen Raster ein, innen sind sie alle anders. Kombiniert man die Bausteine zu grösseren Gebilden, so entstehen an Kirchenfenster erinnernde Formationen, in denen das einzelne Glied zurücktritt. Dabei sind die einzelnen Teile nicht Fragmente, sondern durchaus in sich geschlossene, aber zugleich über sich hinausweisende unterschiedliche Individuen voller Kraft. Es gibt keine Über- und Unterordnung, keinerlei Hierarchie. Man fühlt sich an das Ideal eines demokratischen Modells erinnert, wo lauter starke und doch verschiedene Individuen durch ihren wechselnden Zusammenschluss eine grössere, variable Gesamtstruktur bilden. Diese besteht nicht im beziehungslosen Nebeneinander der seriellen, das allover der Warenwelt spiegelnden Formationen eines Andy Warhol, sondern in einer organisch fliessenden Einheit. Sie umschliesst das Disparate: einerseits in der Nebeneinanderstellung der Bildquader eine an Minimalkonstruktionen erinnernde Gitterstruktur, andererseits den nur wenig berechenbaren Fluss der schwarzen Linie(n), der das mathematisch, geometrische Schema sprengt.

Motivation für das Entstehen der Rasterformen in den 60er Jahren war der Wunsch, eine grösstmögliche Distanz zum expressiven Subjektivismus einzuhalten. Lisa Schiess verbindet das konstruktiv serielle Element mit einer unvoraussagbaren Bewegung. Ihr geht es nicht um Ausschaltung des Subjektiven, Handschriftlichen und auch erzählerischen Inhalts, sondern um die Verbindung der beiden Pole - als sei in der Ordnung zugleich immer das Unvorhersehbare, das Individuelle, der Zufall, das Glück präsent.

Das Hin und Her, der Austausch, der Dialog sind entscheidendes Movens der Arbeiten von Lisa Schiess. Die Künstlerin lässt sich immer neu und scheinbar unerschöpflich inspirieren von naheliegender Gegenständlichkeit (Guetzliformen, Druckknöpfen, Strickmaterialien) und von erlebten und gelesenen Geschichten. Solche Partikel - materieller, sprachlicher und auch akustischer Art - verbindet sie zu einer offenen Gesamtstruktur.

Im realen Leben praktiziert sie das Zusammenführen des Heterogenen, indem sie immer wieder einen Freundeskreis zu Feierlichkeiten lädt. So inszenierte sie 1989 unter Berufung auf Platons "Symposion" ein Trinkgelage mit Festessen und geistreichen Streitgesprächen zum Thema Eros, Spiel und Arbeit, und ihr im April 1996 erschienenes Buch "Das Würfelspiel" feierte sie mit einem gross angelegten "Salon de Jeu".

"Das Würfelspiel" (1993) umfasst, verpackt in einem Kasten, verschiedene Jetons und Würfel. Spielen kann man mit diesem Set auf selbst bestimmbare vielfältige Art, gemeinsam oder allein. Die "Raffinesse des Systems" besteht darin, wie Elisabeth Grossmann im zugehörigen Buch schreibt, "eine variabilissime Gesamtstruktur anzubieten, bei der die Bedienungsanleitung nicht mitgeliefert wird". Das unterscheidet dieses Würfelspiel von den herkömmlichen Produkten, dass kein präziser Ablauf, keine Regel vorgegeben sind. Die gilt es - wie im Leben -, ausgehend von einigen vorgegebenen Grundbedingungen, selber zu erwerben.

Was auch entsteht aus diesem Repertoire von Bausteinen, ob ausgelegte Bilder oder von Glück und Zufall bestimmte Würfelspiele, immer handelt es sich um eine von vielen Möglichkeiten, eine momentane Wahl. Die Ganzheiten von Lisa Schiess weisen vorwärts und zurück zugleich, animieren zu Zerstörung und Aufbau, implizieren die Wiederholung von Werden und Vergehen. Von Dauer ist nur die Wandlung. So ist die auf und ab schwingende Linie als endlose Variation des Immergleichen eine neben dem Spiel existierende Konstante ihrer Arbeit. Sie läuft durch die Bilder hindurch, an ihr sind die Ereignisse aufgereiht, sie ist der rote Faden im Werk wie das im Kofferraum ihres Autos verstaute rote Tau, das sie bei ihren Reisen begleitet.


Publiziert im Kunst-Bulletin Nr. 10 / 1996