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Auftakt
von Giovanni Carmine


MA BOHÈME ist ein Werk der Künstlerin Lisa Schiess, die eines Tages den Wunsch verspürte, ein Sonett zum Klingen zu bringen, so wie es die Etymologie dieses Wortes suggeriert. Daraus  hat sich ein komplexes Projekt entwickelt, das Brücken zwischen den Disziplinen und den Kulturen zu schlagen versucht.


Der Werktitel bezieht sich direkt auf den Titel eines Sonetts, das der französischen Dichter Arthur Rimbaud 1870 verfasste und das hier nun zum Erklingen gebracht wird. Je drei Komponistinnen und Komponisten aus der Schweiz und Ägypten haben im Auftrag der Künstlerin Musikstücke geschrieben.


Lisa Schiess hat ein Kompositionsgerüst vorbereitet, das direkt von Rimbauds Sonett abgeleitet ist. Es wurde folgendermassen "ausgewürfelt": Für jede Strophe des Sonetts gibt es einen Würfel, auf dessen sechs Seiten die Buchstaben eines Wortes stehen. Für jeden Buchstaben des Originaltextes erfolgt ein Würfelwurf, so dass sich MA BOHÈME in ein Buchstabenbild transformiert. Da jedem der vier Würfel ausserdem eine Sechstonreihe zugeordnet ist, kann das Sonett zu klingen beginnen. Der Würfel spielt dabei seine Rolle als Botschafter des Zufalls, der Variabilität und des Aleatorischen.


Dieser Prozess der Transformation eines Gedichtes - zuerst in ein Buchstabenbild, dann in eine Melodie und schlussendlich in sechs Kompositionen - ist die Ausgangslage des künstlerischen Projektes von Lisa Schiess. Dadurch ergibt sich aber noch keine Einheit. Diese wird erst im Moment der Aufführung erreicht, wenn das Sonett auch fürs Publikum zum Klingen kommt.


Hier treffen die Kompositionen zusammen und werden durch eine Rahmenerzählung begleitet, die als verbindendens Element fungiert. Vor, zwischen und nach den Musikstücken laufen parallel zwei Videoprojektionen, die zwei Autofahrten zeigen, welche die Künstlerin mit ihrer Kamera aufgenommen hat. Die eine führt von einer Gastwirtschaft am Zürichsee zur Stadt hinaus auf die Schwägalp, dem touristischen Aussichtspunkt vor dem Säntis, die andere führt von einem Kaffee im Zentrum Kairos bis zu den Pyramiden. Im Nebeneinander dieser Bilder werden Differenzen und Gemeinsamkeiten sichtbar: Zwei weit entfernte Orte werden einander nahe gebracht, ohne dass dadurch ihre kulturellen und ästhetischen Unterschiede verloren gehen. Die Tonspuren vermischen sich und bilden eine gemeinsame Geräuschkulisse, eine Art "musique concrète", die westliche und östliche Stimmungen gemeinsam wiedergibt. Diese audiovisuelle Reise verbindet den Augenblick der "quête", der Wegfindung, mit dem Hinterfragen der eigenen Identität, wird zu einer Reise, die als Moment der gefundenen Freiheit auch in Rimbauds "Ma Bohème"- Versen besungen wird.


Lisa Schiess erreicht in ihrem Projekt eine einzigartige Vielschichtigkeit: Literatur, Musik und bildende Kunst treffen sich in einem multimedialen Raum. Trotzdem behalten sowohl die Kompositionen als auch die Videoarbeit ihre eigene künstlerische Autonomie und Aussagekraft und können darum auch unhabhängig voneinander aufgeführt werden.


Weiter ist "Ma Bohème" auch das Resultat des Zusammentreffens und der Zusammenarbeit zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen, Sparten und Generationen. Die Vielfalt und Dichte, die sich hier ergibt, findet ihre Entsprechung in den literarischen Beiträgen sowie der Audio-CD dieser Publikation.


Hoch auf einer Mauer des Luxor-Tempels steht die Inschrift "RIMBAUD". Man vermutet, dass der Dichter seine Unterschrift in den Sandstein geritzt hat, denn in den letzen zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts war er oft als Kaufmann in dieser Gegend unterwegs. Man weiss allerdings nicht mit Sicherheit, ob sich Rimbaud selbst in der Art der "Graffito-Touristen" verewigt hat, denn der Tempel lag damals noch tief im Sand versunken und nur wenige Mauerspitzen blickten hervor. Mehr als hundert Jahre nachdem Rimbaud sich in Ägypten aufhielt und vielleicht seinen Namen einritzte, hat Lisa Schiess mit dem Versuch, ein Sonett beim Wort zu nehmen, ebenfalls ein Zeichen gesetzt, welches gleichzeitig als Hommage an den Dichter wirkt. Die Brücken sind geschlagen, es klingt das Sonett.



Zürich September 2003